Meine erste Panikattacke hatte ich mitten in einer Teamsitzung. Eine Kollegin war gerade dabei, den Quartalsbericht vorzutragen, als es mich eiskalt erwischte. Von einem Moment auf den anderen hatte ich das Gefühl, sterben zu müssen. Mein Herz fing an zu rasen, das Blut rauschte in den Ohren. Ganz kurz wurde mir sogar schwarz vor den Augen.
„Sonja? Hast du mir zugehört?“
Irritiert schaute sie mich an. Offenbar hatte sie mich gerade etwas gefragt.
„Wie bitte? Entschuldige! Ich muss mal an die frische Luft.“
Blindlings lief ich aus dem Zimmer und auf den Ausgang zu. Nur raus hier!
Als ich kurz darauf schweißgebadet vor dem Bürogebäude stand, musste ich erst einmal zu Atem kommen. Am ganzen Körper zitternd setzte ich mich auf eine Parkbank. Was war das denn gewesen? Gott im Himmel! Ich hatte doch hoffentlich kein Herzanfall gehabt?
Als ich mich etwas später wieder halbwegs beruhigt hatte, ging ich auf wackligen Knien zurück ins Büro. Zum Glück war die Besprechung mittlerweile vorbei.
„Es tut mir leid, aber es geht mir nicht gut. Ich glaube, ich bekomme eine Grippe.“
Als ich schließlich mit letzter Kraft zu Hause ankam, legte ich mich erst mal ins Bett. Und obwohl ich mich müde und erschöpft fühlte, hatte ich nicht das Gefühl, erkältet zu sein. Aber was hätte ich im Büro schon anderes sagen sollen?
„Ich muss nach Hause, sonst drehe ich durch?“, war ganz sicher nicht das, was mein Chef hören wollte.
Weil mir die ganze Sache aber keine Ruhe ließ, ging ich noch am selben Tag zu meinem Hausarzt. Während ich im Wartezimmer saß, dachte ich noch einmal über das grauenvolle Gefühl nach, dem ich vor ein paar Stunden hilflos ausgeliefert gewesen war. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir eine handfeste Diagnose. Etwas, das man behandeln und dann wieder abhaken konnte.
„Ihre Befunde sind erst mal unauffällig.“
Natürlich würde es noch einige weitere Tests und Untersuchungen geben müssen. Aber nachdem ein EKG erstellt und Herz und Lunge abgehört worden waren, war klar, dass ich zumindest keinen Herzinfarkt gehabt hatte. Und da ich keine Medikamente nahm, konnten auch irgendwelche Nebenwirkungen oder Kontraindikationen ausgeschlossen werden.
„Aber was war das dann?“ Mit Tränen in den Augen schaute ich den Arzt an. In letzter Zeit war ich ziemlich nah am Wasser gebaut.
„Ich denke, Sie hatten eine Panikattacke.“
Und dann erklärte er mir, dass Panikattacken ganz plötzlich auftraten. Die Betroffenen hätten von einem Moment auf den anderen das Gefühl, komplett die Kontrolle zu verlieren oder gar zu sterben.
„Herzklopfen, Schwindel, Schweißausbrüche, Zittern und Atemnot sind typisch dafür.“
Meistens würden sich die Symptome nach ein paar Minuten wieder ganz von selbst legen. Genauso war es bei mir gewesen. Seither hatte ich allerdings das Gefühl, dass mich die Angst jeden Augenblick wieder einholen konnte.
„Auch das ist typisch.“ Die Angst vor der Angst sei eine häufige Begleiterscheinung von Panikattacken. Deshalb wäre es wichtig zu wissen, dass jede Attacke zeitlich begrenzt war. „Sobald sie ihren Höhepunkt erreicht hat, ebbt sie ab.“
„Noch einmal möchte ich das aber nicht erleben.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Mitfühlend schaute mein Arzt mich an.
„Manchmal bleibt es auch bei einer einmaligen Attacke.“
Nicht jede Panikattacke müsse gleich in eine Panikstörung münden. Wenn die Attacken allerdings häufiger auftreten würden, wäre es wichtig, sich so früh wie möglich professionelle Hilfe zu suchen.
„Und was soll ich jetzt machen?“ Ratlos schaute ich ihn an.
„Wir klären jetzt erst mal mögliche organische Ursachen ab und in der Zwischenzeit hilft Ihnen sicher das Gespräch mit einem Psychologen oder Psychotherapeuten.“
War das wirklich notwendig? Ehrlich gesagt, begeisterte mich diese Aussicht nicht sehr. Andererseits hatte der Arzt wahrscheinlich Recht. Je früher man geeignete Maßnahmen setzte, desto eher würde man die Erkrankung in den Griff bekommen. Oder dafür sorgen, dass aus der ganzen Sache gar nicht erst eine Krankheit wurde.
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Denn in den Tagen danach beherrschte mich die Angst, aus heiterem Himmel eine weitere Panikattacke zu bekommen. Was, wenn ich wieder von einem Moment auf den anderen das Gefühl bekam, gleich sterben zu müssen? Diese „Angst vor der Angst“ war wirklich grauenvoll. Deshalb war ich auch erst mal krankgeschrieben. Allein der Gedanke, dass ich mitten auf der Straße oder im vollbesetzten Büro einen weiteren Panikanfall bekommen könnte, machte mich komplett fertig. Zu Hause konnte ich wenigstens versuchen, langsam wieder zu mir zu finden.
„Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich vorstellen, wie schrecklich das ist.“
Als mich wenig später eine alte Bekannte zu Hause besuchen kam, konnte ich nicht anders, als ihr mein Herz auszuschütten. Zu meiner Überraschung wusste Eva allerdings ganz genau, wie es mir ging.
„Wenn die Angst kommt, versuch nicht, sie zu verdrängen.“
Je mehr man sich gegen die aufkommende Panik wehrte, desto stärker werde die Attacke. Verständnisvoll lächelte sie mich an.
„Hast du eine Ahnung, woher so etwas kommen kann?“
„Die Ursachen können in der Familiengeschichte zu finden sein oder mit belastenden Lebensereignissen in Zusammenhang stehen.“
„Belastende Lebensereignisse?“
„Na zum Beispiel eine Trennung oder Scheidung, ein Todesfall in der Familie oder die länger dauernde Pflege von nahen Angehörigen.“ Aber auch Unfälle, Jobverlust oder sonstige finanzielle Notlagen kämen als Auslöser in Betracht.
„Mit anderen Worten: Alle Arten von Überforderung und Stress.“
Natürlich müsse nicht jeder, der über eine längere Zeitspanne hinweg zu viel Stress ausgesetzt sei, gleich eine Panikattacke bekommen. Aber Menschen wären nun mal verschieden.
„Manchmal können auch rein biologische Faktoren eine Rolle spielen, wie etwa Herzkrankheiten, Probleme mit der Schilddrüse oder hormonelle Störungen.“ Deshalb wäre es wichtig, organische Ursachen medizinisch auszuschließen.
„Du kennst dich ja ziemlich gut aus.“
Und dann erzählte Eva mir, dass sie schon seit einigen Jahren selbst unter Panikattacken leiden würde. Mittlerweile wäre sie sogar Leiterin einer Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige.
„Ich habe gelernt, damit umzugehen.“
Mal sei es besser, mal schlechter. Es gäbe auch immer wieder Phasen, in denen sie überhaupt keine Beschwerden habe. Und man könne auch selbst etwas tun, um die Lebensqualität zu verbessern. Atemübungen, Akupressur, Autogenes Training und Methoden zur Muskelentspannung würden manchmal ganz gut helfen. Und dann gäbe es auch noch Akupunktur, Biofeedback, Qi Gong oder zum Beispiel auch Jin Shin Jyutsu.
„Dschin schin was?“
„Jin Shin Jyutsu.“ Das sei eine Form des Energieströmens.
„Jedem hilft etwas anderes. Probiert es einfach mal aus.“
„Warum hast du eigentlich nie erzählt, dass du Panikattacken hast?“ Neugierig schaute ich sie an.
„Weil die meisten Ratschläge zwar gut gemeint sind, aber am Thema vorbei gehen. Niemandem nützt es, wenn er oder sie gesagt bekommt, dass es objektiv betrachtet keinen Grund gibt, Angst zu haben. Oder, dass es „anderen noch viel schlechter“ gehe.
„Denn das weiß ich selbst. Es hilft mir allerdings nicht.“ Und auch Hinweise, dass sich „alles nur im Kopf abspielt“oder die Panik „übertrieben“ wäre, würden nichts bringen.
„Die Betroffenen erleben Todesängste.“ Mit psychologischer oder psychotherapeutischer Hilfe sei es aber meist möglich, diverse Auslöser einzugrenzen und die Panikattacken im Laufe der Zeit immer besser zu kontrollieren.
„Und natürlich schämt man sich auch.“ Denn wer wolle schon gerne als „schwach“ oder als „nicht belastbar“ angesehen werden?
„Obwohl die meisten Menschen gar nicht wissen, wie stark man sein muss, um so etwas überhaupt auszuhalten.“ Deshalb wäre es ihr auch so wichtig, den Betroffenen Mut zu machen.
„Je schneller man lernt, dass eine Panikattacke an sich nicht lebensgefährlich ist, desto eher wird sie sich abschwächen oder im besten Fall gleich ganz ausbleiben.“
Jetzt hatte ich zumindest das Gefühl, der ganzen Sache nicht total hilflos ausgeliefert zu sein.
Diese Zuversicht sollte ich allerdings auch brauchen, denn ungefähr vier Wochen später hatte ich eine weitere Panikattacke. Mitten in einem vollbesetzten Autobus. Nur mit Mühe und Not konnte ich mich zum Ausstieg durchkämpfen. Als ich endlich draußen war, war ich noch etliche Stationen von meinem eigentlichen Ziel entfernt. Aber daran konnte ich in dem Moment ohnehin nicht denken. Als die Attacke vorüber war und ich wieder klar denken konnte, rief ich erst mal meinen Hausarzt an. In der Zwischenzeit war ich auf seine Empfehlung hin auch noch bei diversen Fachärzten, wie zum Beispiel einen Internisten, gewesen.
„Die Befunde sind inzwischen alle eingetroffen. Rein körperlich sind Sie gesund.“
Deshalb würde er mir noch eine weitere Überweisung für einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie schreiben.
„Dort können Sie dann besprechen, welche anderen Möglichkeiten es gibt und welche Art von Behandlung und Therapie für Sie persönlich am besten geeignet ist.“
So war es dann auch. Der Besuch bei der empfohlenen Fachärztin hat mir ein Stück weit Sicherheit gegeben. Sie hat sich meine Befunde angesehen und mir noch einmal bestätigt, dass organisch alles in Ordnung ist. Und sie hat mir erklärt, dass die Möglichkeit besteht, mir im Bedarfsfall Medikamente zu verschreiben.
„Zumindest mal eine Zeitlang. Niemand muss einer Angsterkrankung hilflos ausgeliefert sein.“ Allein das zu wissen, hat mir schon sehr geholfen.
Schlussendlich habe ich mich dann in Absprache mit der Fachärztin dafür entschieden, eine Psychotherapie zu machen.
„Manche Psychologen und Psychotherapeuten sind auf Angsterkrankungen spezialisiert.“ Auch das war eine wertvolle Information. Mittlerweile habe ich einen Psychotherapeuten gefunden, bei dem ich mich sehr wohl fühle. Es geht mir schon sehr viel besser und zum Glück haben sich bis jetzt keine weiteren Panikattacken eingestellt. Trotzdem werde ich die Psychotherapie noch eine Zeitlang fortführen.
Letztens habe ich mich auch nochmal mit Eva getroffen.
„Und, wie geht´s dir?“ Interessiert schaute sie mich an.
„Eigentlich recht gut. Mein Psychotherapeut hat mir eine Methode mit speziell geleiteten Augenbewegungen empfohlen.“
„Geleitete Augenbewegungen?“
Davon hatte Eva ganz offensichtlich noch nichts gehört.
„Ja. Das nennt sich EMDR und kommt ursprünglich aus der Traumatherapie.“ Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, wurde diese Methode inzwischen auch bei der Behandlung von Angst- und Panikerkrankungen, Selbstwertstörungen, Leistungsblockaden und Phobien angewendet. Mein Therapeut war darin speziell ausgebildet und er hatte mir auch einige Übungen gezeigt, die ich zu Hause ganz gefahrlos selbst machen konnte.
„Du hast bei unserem letzten Gespräch wirklich recht gehabt.“ Lächelnd schaute ich sie an.
„Jedem hilft etwas anderes. Aber irgendeine Möglichkeit zur Selbsthilfe gibt es immer.“
Zumindest dann, wenn man Augen und Ohren offen hält.