„Mein Gott, Mama! Wie sieht´s denn hier aus?“
Seit mein Mann und ich aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt übersiedelt waren, hatte ich meine Mutter nur selten gesehen. Und als ich endlich wieder einmal auf Besuch bei ihr war, glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen.
„Kannst du nicht mal aufräumen? Ich verstehe nicht, wie man so leben kann!“
Ärgerlich stieg ich über Berge von Zeitungen hinweg, die den Eingang versperrten. Natürlich war mir auch schon bei früheren Besuchen aufgefallen, dass meine Mutter sich nur schwer von Dingen trennen konnte. Aber bisher hatte ich immer gedacht, alles würde sich doch noch einpendeln. Doch offenbar hatte ich mich geirrt. Denn mittlerweile konnte man Mamas Wohnung nur noch als verwahrlost bezeichnen. Und auch sie selbst machte nicht gerade einen gepflegten Eindruck. Allerdings sah Mama das anders.
„Was du immer hast! Ist doch halb so schlimm.“
„Ist das dein Ernst?“ Verzweifelt schaute ich mich um.
Meine Mutter hatte nur eine kleine Wohnung, vom Vorzimmer kam man direkt in die Küche. Und auch dort herrschte das absolute Chaos. Überall stapelte sich ungewaschenes Geschirr und auch der Herd und die Arbeitsflächen waren total verdreckt. Warum konnte sie bloß keine Ordnung halten? Andere Leute schafften das doch auch! Immerhin war sie schon lange in Pension und ohnehin den ganzen Tag zu Hause.
„Wozu hortest du nur diesen ganzen Mist?“
Angeekelt schüttelte ich mich. Denn auch im Wohnzimmer sah es nicht viel besser aus. Plastiksäcke, prall gefüllt mit Kleidungsstücken und irgendwelchem Krempel machten das Durchkommen fast unmöglich. Der einzige Platz, der noch halbwegs frei war, war die Essecke. Scheinbar konzentrierte sich Mamas Leben mittlerweile auf diese paar Quadratmeter. Die übrige Wohnung war überfüllt mit Schachteln und Kartons, vollgeräumt mit alten Werbeprospekten und Zeitschriften, die schon ewig niemand mehr angeschaut hatte.
„Warum hast du denn nicht gesagt, dass dir der Haushalt über den Kopf wächst?“
Immer, wenn ich mit meiner Mutter telefoniert hatte, hatte sie so getan, als wäre alles in bester Ordnung. Und obwohl ich ihr jetzt wirklich ernsthaft ins Gewissen redete, lehnte sie das Angebot einer Putzhilfe kategorisch ab.
„Ich mache das lieber selbst!“
„Na, dann mach es aber auch!“ Wenn ich ehrlich war, hatte ich da so meine Zweifel.
Aber zum Glück hatte ich noch ein paar Tage Urlaub in meiner alten Heimat. Als ich ein paar Tage später noch einmal bei meiner Mutter vorbei schaute, war alles unverändert. Offenbar würde eher ein UFO im Stadtpark landen, als dass meine Mutter endlich mal einen Putzlappen in die Hand nahm. Wobei es mit Putzen ohnehin nicht getan wäre. Hier konnte nur noch eine Entrümpelung samt professioneller Generalreinigung helfen. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel Dreck sich unter all dem Gerümpel verstecken mochte. Hoffentlich hatte sie nicht auch noch Ungeziefer! Das hätte gerade noch gefehlt.
Aber da es ohnehin nichts half, versuchte ich erst einmal, mir meine Frustration nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
„Wie geht´s dir denn sonst? Ist gesundheitlich alles in Ordnung?“
„Ja, alles gut. Aber könntest du vielleicht mal meine Post durchsehen?“
In letzter Zeit wäre sie einfach nicht dazu gekommen.
„Wird ohnehin nur Werbung sein.“ Bittend schaute sie mich an.
Als ich den Poststapel eine halbe Stunde später durchgesehen hatte, war mir eiskalt.
Was ich da in Händen hielt, war keineswegs nur Werbung, sondern unter anderem ein Einschreiben der Hausverwaltung. Der Brief war schon mehr als drei Wochen alt.
„…haben wir Sie aufzufordern, den sanitären Übelstand umgehend zu beseitigen. Andernfalls sehen wir uns gezwungen, eine Räumungsklage bei Gericht einzubringen.“
Entsetzt schaute ich meine Mutter an.
„Mama! Die Hausverwaltung droht damit, dich rauszuschmeißen!“
„Aber wieso denn? Ich habe meine Miete doch immer pünktlich bezahlt!“
„Leider wird dir das nicht allzu viel nützen.“
Und dann erklärte ich meiner Mutter, dass es auch noch andere Kündigungsgründe als einen Mietzinsrückstand gab. Auch jemand, der seine Wohnung so sehr vernachlässige, dass andere Mieter darunter leiden würden, könne gekündigt werden. „Erheblich nachteiliger Gebrauch“ nannte sich das.
Jetzt war aber wirklich Feuer am Dach! Doch im Grunde wunderte es mich nicht. Der Geruch in Mamas Wohnung war mittlerweile so penetrant, dass man ihn sogar im Stiegenhaus riechen konnte. Wer nicht wusste, wo sie wohnte, hätte auch der Nase nach hingefunden.
„Was soll ich denn jetzt machen?“ Verzweifelt schaute meine Mutter mich an.
„Wir müssen die Wohnung reinigen. Und zwar dringend!“
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, machte ich mich erst mal im Internet schlau. Natürlich war eine Reinigungsfirma schnell gefunden, aber war es damit getan? Generalreinigung hin oder her. So, wie ich die Sache sah, würde meine Mutter innerhalb kürzester Zeit wieder anfangen, alle möglichen Sachen zu horten. Und dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Wohnung neuerlich von oben bis unten vollgeräumt wäre.
„Das kann ich alles noch brauchen“, hatte sie ständig wiederholt, als ich sie dazu bewegen wollte, wenigstens einen Teil der Sachen wegzugeben.
Wie sollte das bloß weiter gehen? Mama war doch früher nicht so gewesen! Wenn ich an meine Jugend zurück dachte, hatte ich saubere Zimmer und eine blitzblanke Küche vor Augen. Damals hätte man fast schon vom Fußboden essen können.
Wann hatte sich das alles ins absolute Gegenteil verkehrt?
Weil ich mir auf das alles keinen Reim mehr machen konnte, gab ich schließlich auch Begriffe wie „Messie“, Sammelwut“ und „Krankheit“ in die Suchmaschine ein. Das, was ich dann zu lesen bekam, machte mich hellhörig. Da war von „pathologischem Horten“ und einer möglichen Zwangserkrankung die Rede. Das Anhäufen von unbrauchbaren, wertlosen oder verbrauchten Dingen wäre typisch für das Verhalten der Betroffenen. Während andere Menschen überflüssige Dinge einfach wegwarfenoder anderweitig entsorgten, hätten die Betroffenen das starke Bedürfnis, verschiedene für sie wichtige Dinge zu behalten und immer noch mehr anzusammeln.
Manche Leute würden sogar Tiere im Übermaß „sammeln“. Solange, bis ihnen alles über den Kopf wuchs. Das hieß dann „animal hoarding“. Zum Glück war wenigstens das bei Mama nicht der Fall.
Jedenfalls war das Ganze weit mehr als ein Spleen und hatte mit der Sammelleidenschaft, wie sie manche Menschen für verschiedene Dinge empfinden, rein gar nichts zu tun. Für die Betroffenen war die Erkrankung mit einem wirklichen Leidensdruck verbunden. Was allerdings leider nichts daran änderte, dass sie trotzdem nicht in der Lage waren, sich von Dingen zu trennen. Entweder, weil sie der Ansicht waren, dass sie sie noch brauchen konnten, oder weil sie sich ohne diese Dinge unwohl, unsicher und unglücklich fühlten. Und obwohl die Zustände für Angehörige nur schwer auszuhalten wären, sei es trotzdem wichtig, die Erkrankten nicht unter Druck zu setzen. Erzwungene Aufräumaktionen wären eine große emotionale Belastung. So etwas würde den Leidensdruck nur noch vergrößern. Ein echter Teufelskreis!
Als ich wieder vom PC aufschaute, schwirrte mir der Kopf. Und obwohl nicht alles, was ich im Internet gefunden hatte, von Profis geschrieben war, war mir trotzdem klar, dass Mama dringend Hilfe brauchte. Wie ich mir schon gedacht hatte: Mit einer bloßen Entrümpelung war es nicht getan.
„Was soll ich denn jetzt machen?“
Als ich kurz darauf meinen Mann in alles einweihte, war ich erleichtert, dass er meine Mutter nicht verurteilte, sondern sogar selbst einiges darüber wusste.
„Ein Bürokollege hat mir erzählt, dass sein Vater unter dieser Krankheit leidet.“ Offenbar konnte man den Betroffenen in einem gewissen Ausmaß durchaus helfen.
„Das ist allerdings kein Spaziergang.“
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Wie sollte ich Mama bloß dazu bringen, sich helfen zu lassen? In letzter Zeit war es ja kaum möglich gewesen, sie auch nur zu einem Besuch bei uns zu überreden. Und auch meine Besuche hatte sie immer öfter abgeblockt. Wie ich inzwischen wusste, war sozialer Rückzug eine häufige Begleiterscheinung der Krankheit.
„Ich glaube, manche Psychologen und Psychotherapeuten machen auch Hausbesuche“, meinte mein Mann. Jedenfalls wäre das beim Vater seines Kollegen so gewesen. Zusätzlich wäre aber auch noch ein Sozialarbeiter regelmäßig bei ihm vorbei gekommen.
„Zum Glück hat sein Vater das zugelassen.“ Denn man könne ja niemanden zwingen, einen Fremden in die Wohnung zu lassen.
„Und ein Arztbesuch sollte auch auf dem Programm stehen.“
Denn es müsse ja auch abgeklärt werden, wie es um die Gesundheit der Betroffenen bestellt sei.
„Und ob sie Medikamente benötigen.“
„Da steht uns ja ganz schön was bevor.“ Ich schluckte. Wie sollte ich das bloß schaffen?
„Wenn du willst, rede ich mit der Hausverwaltung. Und meinen Kollegen kann ich sicher auch um ein paar Adressen fragen.“ Aufmunternd lächelte mein Mann mich an.
„Du musst das nicht alleine durchstehen.“
So war es dann auch.
Schritt für Schritt machten wir uns daran, meiner Mutter im Umgang mit ihrer Krankheit zu helfen. Das war vor allem am Anfang schwierig. Aber irgendwann erkannte auch Mama, dass sie Hilfe brauchte. Und auch, wenn sich die Situation nicht von heute auf morgen verbesserte: So schlimm, wie es einmal gewesen war, wurde es nicht mehr. Eine große Hilfe waren uns dabei die diversen Beratungseinrichtungen und Hilfsangebote. Denn mit Begriffen wie „Delogierungsprävention“, „Mieterschutzeinrichtung“ und „Wohnungssicherungsstelle“ hatten wir vorher noch nie etwas zu tun gehabt.
„Die Betroffenen sind krank, aber nicht dumm. Die meisten spüren durchaus, dass etwas nicht in Ordnung ist“, war eines der ersten Dinge, die mir erklärt wurden, als ich begann, mich mit der ganzen Thematik näher auseinanderzusetzen. Inzwischen wusste ich auch, dass die Krankheit viele Aspekte haben konnte.
„Deshalb ist eine genaue Diagnose so wichtig“, erklärte mir einer der Fachleute, mit denen ich sprach. Denn hinter dem sogenannten „Vermüllungssyndrom“ könne sich auch noch eine ganz andere Grunderkrankung verbergen.
„Auf jeden Fall sind die Betroffenen weder schlampig noch faul.“
Deshalb sei es auch völlig sinnlos, mit ihnen zu schimpfen oder ihnen Vorwürfe zu machen.
„Das bringt gar nichts und macht alles nur noch schlimmer.“
Und da die Ursachen von Fall zu Fall unterschiedlich sein konnten, wäre es auch so wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Und genau das haben wir dann auch getan.