„Hey Klaus, wie sieht´s aus? Gehst du nach der Arbeit noch mit was trinken?“
Solche im Grunde sehr netten Fragen machten mir immer noch zu schaffen. Ich war seit zwei Jahren trockener Alkoholiker und auch, wenn ich mein Leben wieder ganz gut im Griff hatte, konnte ich mich nicht überwinden, andere in mein Geheimnis einzuweihen.
„Danke für die Einladung. Aber ich hab schon was vor.“
In Wahrheit wäre ich gerne noch mit meinen neuen Arbeitskollegen mitgegangen. Nicht um zu trinken, sondern einfach, um sie besser kennen zu lernen. Denn nach meinem Alkoholentzug hatte ich mich von etlichen meiner alten Freunde verabschieden müssen. Ich hatte einfach keine Lust mehr, mich ständig zu rechtfertigen, weil ich nichts mehr trinken wollte.
„Ein Glas kann doch nicht schaden“, waren so die üblichen Sprüche gewesen, wenn ich erklärt hatte, dass ich keinen Alkohol mehr trinken würde.
„Aber ein alkoholfreies Bier kannst du doch wenigstens trinken, oder?“
„Nein, kann ich nicht.“
Und dann erklärte ich wieder einmal, dass für Alkoholiker auch alkoholfreies Bier tabu war.
„Der Geschmack ist zu ähnlich. Dadurch besteht die Gefahr eines Rückfalls.“
„Dann kannst du ja gar nichts mehr essen oder trinken, wo Alkohol drinnen ist.“
„Genauso ist es.“
So war es im Laufe der Zeit recht still um mich geworden. Und als ich dann auch noch den Job gewechselt hatte, fühlte ich mich ziemlich einsam. Dabei war ich früher immer ein geselliger Mensch gewesen. Jemand, der für jeden Spaß zu haben war. Und natürlich spielte Alkohol dabei immer eine Rolle.
Angefangen hatte alles damit, dass aus ein oder zwei Bier nach Feierabend eine ständige Gewohnheit geworden war. Zuerst hatte ich noch getrunken, um mich zu entspannen oder für irgendetwas zu „belohnen“. Und bald schon wurde alles, womit ich Stress oder ein Problem hatte, mit Alkohol weggespült. Ganz egal, ob Ärger in der Arbeit, Streit mit der Freundin oder finanzielle Sorgen: Alkohol war meine Antwort auf alles. Und lange Zeit war ich fest davon überzeugt, alles unter Kontrolle zu haben. Deshalb habe ich die Warnungen meiner Freundin Karin auch nicht ernst genommen.
„Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will.“
Allerdings waren meine wiederkehrenden Versuche, den Alkoholkonsum zumindest etwas zu reduzieren oder gleich ganz mit dem Trinken aufzuhören, nicht von Erfolg gekrönt. Und als Karin mich schließlich wegen meiner Trinkerei verließ und mit Sack und Pack auszog, war ich zwar am Boden zerstört, ändern konnte ich aber trotzdem nichts. In Wahrheit war ich da schon lange süchtig. Denn obwohl ich es versuchte, konnte ich nicht aufhören. Einige Tage oder gar Wochen ohne Alkohol zu verbringen, war mittlerweile ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Deshalb habe ich die Trinkerei auch weitgehend verheimlicht. Allerdings haben mir Außenstehende meine Sucht auch nicht gleich angemerkt. Denn anders als andere Alkoholkranke hatte ich kaum einmal einen richtigen Rausch. Ich war lange Zeit eher der Typ, der einen bestimmten Pegel braucht, um rein äußerlich halbwegs zu funktionieren. Dazu musste ich allerdings die Dosis ständig erhöhen. Trotzdem redete ich mir immer noch ein, dass alles nur halb so schlimm war. Erst, als ich sogar schon Alkohol brauchte, um morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen, dämmerte mir, dass es so nicht länger weitergehen konnte. Mittlerweile wusste ich fast schon nicht mehr, was schlimmer war: Das morgendliche Erbrechen, wenn ich wieder mal zu viel getrunken hatte oder die Übelkeit, wenn ich versucht hatte, abstinent zu bleiben. So war es auch kaum verwunderlich, dass mein Gesundheitszustand ernsthaft in Gefahr war.
„Wenn Sie so weiter machen, erleben Sie Ihren nächsten Geburtstag nicht mehr.“
Das Gespräch mit meinem Hausarzt ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Eigentlich hatte ich die Ordination wegen einer anderen Sache aufgesucht, ich wollte ein paar Tabletten gegen meine Schlaflosigkeit haben, aber meine Leberwerte sprachen dann offenbar Bände. Und dann erklärte der Arzt mir, dass ich ohne professionelle Hilfe von Ärzten und Therapeuten wahrscheinlich nicht in der Lage sein würde, mit dem Trinken aufzuhören. Mittlerweile wusste ich natürlich schon selbst, dass mein Körper auf jeden Versuch, mit dem Trinken aufzuhören, mit Zittern und Schwitzen, innerer Unruhe und Übelkeit reagierte. Ganz zu schweigen von der psychischen Anspannung. Alles zusammen war dann jedes Mal Grund genug gewesen, um wieder mit dem Trinken anzufangen. Danach ging es mir zwar besser, aber natürlich hat dieser Zustand nie lange angehalten. Schon nach kurzer Zeit habe ich die nächste Dosis gebraucht. Es war wie ein sich ständig wiederholender Kreislauf. Alkohol war mein ständiger heimlicher Begleiter, wichtiger als Essen, Freundschaften oder Beziehungen. Am Ende drehte sich alles nur noch darum, meinen Alkoholspiegel zu halten und so halbwegs über den Tag zu kommen. Allerdings hatte es in letzter Zeit immer öfter heftige Einbrüche und sogar regelrechte Blackouts gegeben. Nach manchen Wochenenden konnte ich mich kaum noch daran erinnern, was ich an den beiden Tagen davor getan hatte und wo ich gewesen war.
Und so habe ich mich schlussendlich auf dringendes Anraten meines Arztes überwunden, einen stationären Alkoholentzug zu machen. Selbst dabei habe ich noch versucht, mir die Dinge schön zu reden. Aber je länger ich in der Klinik war, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich für den Rest meines Lebens Alkoholiker sein würde. Hatte ich anfangs noch gedacht, dass es ausreichen würde, meinen Alkoholkonsum einfach zu reduzieren, wurde ich bald eines Besseren belehrt.
„Jemand, der alkoholkrank ist, sollte sich zeitlebens von Alkohol fernhalten.“
Das sagten mir nicht nur die Ärzte und Therapeuten im Spital, sondern auch die Psychologin, bei der ich seit meiner Entlassung aus der Entzugsklinik regelmäßig zur Nachsorge war.
„Das bedeutet auch, dass man sich genau überlegen muss, was man konsumiert.“
Denn wenn man nicht selbst davon betroffen wäre, würde man gar nicht darüber nachdenken, wo überall Alkohol enthalten sein kann. Nicht nur in Getränken, sondern auch im Essen oder in Medikamenten.
„Gewöhnen Sie sich an, das Kleingedruckte auf Verpackungen zu lesen.“
Im Zweifelsfall wäre es nicht nur im Supermarkt oder im Restaurant gut, auf die Inhaltsstoffe zu achten, sondern auch bei Medikamenten. Oder beim Arzt oder in der Apotheke gleich ein alkoholfreies Präparat zu verlangen, das auch von Kindern gut vertragen werden kann.
Und natürlich ist Alkohol auch in der Werbung und im Fernsehen regelmäßig präsent. Das war vor allem in der ersten Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sehr hart. Da konnte es passieren, dass schon eine Filmszene, in der sich ein paar Leute zuprosten, in mir das unwiderstehliche Verlangen weckte, ebenfalls einen Schluck zu trinken. Inzwischen wusste ich allerdings, dass es bei einem Schluck nicht bleiben würde.
Mittlerweile kann ich es zum Glück schon recht gut aushalten, wenn andere in meiner Gegenwart Alkohol trinken. Zumindest dann, wenn sich der Konsum in Grenzen hält. Von Menschen, die regelmäßig zu viel trinken, halte ich mich gezielt fern. Ich denke, das wird auch in Zukunft so bleiben. Denn die Gefahr eines Rückfalls ist immer da. Und auch, wenn ich das Gefühl habe, im Laufe der Zeit zunehmend stabiler zu werden, weiß ich trotzdem, dass Alkohol für mich immer ein heikles Thema sein wird.
„Eine Krise oder einen Rückfall kann es immer geben. Dann ist es wichtig, sich nicht zu verurteilen, sondern gleich wieder Hilfe zu suchen.“
Das war auch etwas, was mir in der Entzugsklinik vermittelt wurde. Dass niemandem damit gedient ist, wenn man sich still, leise und heimlich damit abmüht, wieder trocken zu werden. Es tut gut, sich gerade in heiklen Momenten daran zu erinnern. Denn je länger man nach einem Rückfall wartet, desto höher ist die Gefahr, dass man wieder in das frühere Suchtverhalten zurück fällt.
Trotzdem hoffe ich natürlich, dass ich keinen weiteren Entzug machen muss. Das alles hat ziemlich viel Kraft gekostet und auch gesundheitlich steht nicht alles zum Besten. Was mich allerdings längere Zeit mindestens genauso sehr beschäftigt hat wie die Angst vor einem Rückfall oder den gesundheitlichen Spätfolgen, war das ständige Versteckspiel. Anfangs hat es mir noch geholfen, meine Krankheit nicht an die große Glocke zu hängen. Aber irgendwann einmal hatte ich die Geheimniskrämerei satt. Deshalb dachte ich immer öfter darüber nach, wie mein neues berufliches und privates Umfeld darauf reagieren würde, wenn ich ganz offen sage, weshalb ich so darauf bedacht bin, nichts zu trinken. Würde ich wieder die üblichen Sprüche zu hören bekommen? Ungebetene Ratschläge oder irgendwelche Verharmlosungen? Oder würde man mich verurteilen und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen?
Schlussendlich habe ich mich entschieden, die Flucht nach vorne anzutreten. Gestärkt durch meine Therapie habe ich erkannt, dass die Krankheit ein Teil von mir ist. Sie ist nicht der Teil, der heute noch Tag für Tag die Oberhand hat, aber sie ist Teil meiner Geschichte. Und deshalb werde ich in Zukunft den wahren Grund angeben, wenn mich jemand fragt, warum ich nichts trinke. Wenn meine Arbeitskollegen mich daher das nächste Mal fragen, ob ich nach Feierabend noch Lust auf ein Bier habe, werde ich keine Ausreden erfinden. Ich werde sagen, was Sache ist und dass ich sehr gerne mitkomme, wenn niemand ein Problem damit hat, dass ich bei antialkoholischen Getränken bleibe. Alkoholsucht ist eine Krankheit, die sehr weite Teile der Bevölkerung betrifft. Je offener man damit umgeht, umso leichter fällt es Betroffenen, sich Hilfe zu suchen. Und je weniger der regelmäßige Konsum von Alkohol im Alltag zum vermeintlich „guten Ton“ gehört, desto eher wird hoffentlich auch klar werden, welche Gefahren damit verbunden sind.