Meine erste Ohrfeige habe ich bekommen, da war ich gerade mal neun. Meine Mutter hatte wieder geheiratet und mein Stiefvater konnte mich nicht leiden. Vielleicht war es am Anfang auch eher umgekehrt. Trotzdem war ich ein Kind und er ein Erwachsener. Was ihn aber nicht daran gehindert hat, mich fertig zu machen.
„Schau nicht so blöd“, war noch das Harmloseste, was ich zu hören bekam. Das war kurz nachdem meine Mutter Manfred kennen gelernt hatte. Ich hatte ihm beim Zeitunglesen über die Schulter geschaut und offenbar fühlte er sich dadurch provoziert. Dabei war ich einfach nur neugierig. Ich habe meinen leiblichen Vater nie richtig kennen gelernt und sehnte ich mich nach einer männlichen Bezugsperson. Gleichzeitig war ich eifersüchtig darauf, dass ich meine Mutter nach Manfreds Auftauchen mit ihm teilen musste. Deshalb war ich oft bockig und abweisend zu ihm. Wahrscheinlich hätte es nur ein bisschen Zeit gebraucht und ich wäre aufgetaut. Aber leider hatte mein Stiefvater keine Geduld. Und jedes Mal, wenn ich weinend zu meiner Mutter lief, gab sie mir die Schuld.
„Du schaffst es noch, ihn aus dem Haus zu treiben“, bekam ich dann zu hören. Als ob ein Kind so etwas fertig bringen würde. Jedenfalls war bald klar, dass ich bei meiner Mutter keine Unterstützung finden würde. Und auch in der Schule fiel niemandem auf, dass ich immer stiller wurde. Meine Mutter und Manfred waren erst kurz verheiratet und mein Alltag war schon eine Mischung aus verbalen Grobheiten und körperlichen Übergriffen.
„Eine ordentliche Watsch`n hat noch keinem geschadet“, war Manfreds Standardspruch. Einmal hat er so fest zugeschlagen, dass ich zwei Tage lang nicht mehr richtig hören konnte. Da hat er es dann offenbar mit der Angst zu tun bekommen. Irgendjemand hätte ja nachfragen können. Ab da war er dann vorsichtiger und hat mein Gesicht in Ruhe gelassen. Dafür war mein Körper bald übersät von blauen Flecken. Meine Mutter hat dann dafür gesorgt, dass ich sogar im Hochsommer T-Shirts mit langen Ärmeln tragen musste. Wenn ich heute ein Kind sehe, das ständig hochgeschlossene Kleidung trägt, bin ich sofort in Alarmbereitschaft. Aber damals hat das niemanden interessiert. Anderen Leuten gegenüber hat meine Mutter immer so getan hat, als ob alles in schönster Ordnung wäre. Niemand hat nachgefragt. Als ich dann in die Pubertät gekommen bin, habe ich angefangen, mich zu wehren. Nicht körperlich, aber mit Worten. Das war dann umso mehr ein Grund für meinen Stiefvater, mich fertig zu machen. Kaum war ich achtzehn, bin ich von zu Hause ausgezogen. Meine Mutter hat nicht mal nach meiner neuen Adresse gefragt. In der Zeit danach habe ich viel von dem, was zu Hause passiert war, verdrängt. Erst, als ich selbst an einen Mann geraten bin, dem die Hand ziemlich locker sitzt, ist alles wieder hochgekommen.
Als ich Stefan kennen gelernt habe, war ich sofort verliebt. Er hingegen hat mich wie Luft behandelt. Umso erstaunter war ich, als er sich eines Tages doch für mich interessiert hat. Und weil er ein paar Jahre älter war und ich mich in seiner Gesellschaft total aufgewertet fühlte, habe ich mir auch alles gefallen lassen. Denn Stefan kam wie ich aus einem schwierigen Elternhaus, seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er noch klein war. Ich glaube nicht, dass sein Vater ihn jemals geschlagen hat, aber er hat sich immer irgendwie unzulänglich gefühlt. Und das hat mein Mitgefühl erregt.
„Wenn ich es wert gewesen wäre, wäre Mama geblieben“, hat er einmal gemeint, als er in einer schwachen Minute über seine einsame Kindheit gesprochen hat. Natürlich war das Unsinn, wie kann ein Kind dafür verantwortlich sein, wenn die Ehe der Eltern den Bach runter geht? Aber damals habe ich das nicht verstanden. Denn ich selbst habe zu Hause ja auch lange genug zu spüren bekommen, dass ich nichts wert war.
Heute denke ich, dass Stefan und ich uns auf eine sehr destruktive Art ergänzt haben:
Eine junge Frau ohne Selbstwert und ein Mann, der nie gelernt hat, Gefühle zuzulassen. Denn jedes Mal, wenn Stefan emotional an seine Grenzen gekommen ist, hat es gekracht.
Das erste Mal hat er zugeschlagen, als ich vergessen hatte, ihm Zigaretten mitzubringen.
„Bist du eigentlich zu blöd für alles?“, hat er mich angeschrien. So schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte ich auch schon seine Faust im Gesicht. Natürlich dachte ich, es wäre meine Schuld. Immerhin hatte Stefan einen anstrengenden und verantwortungsvollen Job. Dass ich in meiner Arbeit mindestens genauso viel zu tun hatte wie er, kam mir damals nicht in den Sinn. Mein Job war automatisch weniger wert. Wie auch mein Leben, meine Freunde und alles, was mich interessiert hat. Stefan war das Maß aller Dinge, was er sagte, hatte Gewicht. Ich war es nicht gewohnt, dass sich jemand für mich interessiert und wenn der Preis für Stefans Zuneigung war, dass ich ab und zu eine Ohrfeige oder einen Schlag in die Rippen bekam, war es mir das wert. Zumindest redete ich mir das ein. Deshalb habe ich auch akzeptiert, dass mich meine beste Freundin kaum noch zu Gesicht bekam. Stefan war der Kontakt zu ihr nicht recht und ich hatte panische Angst, ihn zu verlieren. Deshalb habe ich vor jedem Treffen andere Ausreden erfunden. Wenig verwunderlich, dass Sybille sich irgendwann nicht mehr gemeldet hat. Mir war das damals nur recht. So konnte ich weiterhin so tun, als ob alles in bester Ordnung wäre. Genauso, wie ich es zu Hause gelernt hatte.
Wenn ich heute an diese Zeit zurück denke, schäme ich mich. Ich schäme mich dafür, was ich mir alles gefallen habe lassen. Dafür, dass ich jede noch so dumme Entschuldigung akzeptiert habe. Dafür, dass ich dachte, es nicht besser verdient zu haben. Und vor allem schäme ich mich dafür, dass ich immer wieder auf Stefans Erklärungen rein gefallen bin.
„Du zwingst mich ja förmlich dazu, aus der Haut zu fahren!“
Wie oft habe ich diesen Satz gehört? Habe ich damals wirklich geglaubt, dass Stefan sich einfach so ändern würde? Dass eines Tages alles besser werden würde, dass sich unsere Beziehung einspielen würde, wenn ich es nur schaffe, mich „richtig“ zu verhalten? Wenn ich endlich lerne, ihn nicht mehr ständig zu provozieren? Weil er ja nach jedem Streit und jeder Ohrfeige immer wieder beteuert hat, wie sehr er mich liebt und dass es nie wieder vorkommen wird?
Heute weiß ich, dass Gewalt nicht erst bei Schlägen anfängt. Sie fängt schon sehr viel früher an. Damit, einen anderen Menschen lächerlich zu machen, abfällig zu behandeln und seine Bedürfnisse nicht ernst zu nehmen. Damals wusste ich das alles nicht und wahrscheinlich wäre ich heute noch mit Stefan zusammen, wenn ich nicht gezwungen gewesen wäre, den Job zu wechseln.
Angefangen hat alles damit, dass die Firma, für die ich gearbeitet habe, zusperren musste. Deshalb war ich eine Zeitlang arbeitslos und natürlich war Stefan das ein Dorn im Auge. „Glaub bloß nicht, dass du dich auf meine Kosten auf die faule Haut legen kannst“, war damals einer seiner Lieblingssprüche. Andererseits hat ihm mein finanzieller Engpass wohl auch das Gefühl gegeben, mich noch mehr unter Kontrolle zu haben. Ohne Geld und Job wäre ich weniger denn je in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Je kleiner ich innerlich wurde, desto stärker konnte er sich fühlen. Dass seine Macht nur auf Ohnmacht beruhte, wusste ich damals nicht. Und als ich nach ein paar Wochen endlich einen Job gefunden hatte, dachte ich wieder einmal, es würde endlich aufwärts gehen. Aber natürlich war Stefan auch das nicht recht. Je öfter ich im Büro Überstunden machte, desto missmutiger wurde er.
„Glaubst du, du bist was Besseres? Weil du jetzt ein paar Cent mehr verdienst als ich?“ Vorhaltungen wie diese waren bald an der Tagesordnung. Aber interessanterweise hat das etwas bewirkt. Zum ersten Mal habe ich erlebt, das Stefan nicht der souveräne Mann ist, für den ich ihn gehalten habe. Denn bis dahin war ich ja immer die Bedürftige gewesen. Ich war diejenige, die um seine Liebe betteln musste, die alle Schuld auf sich genommen hat, wenn er wieder einmal aus nichtigem Anlass in die Luft gegangen ist. Plötzlich habe ich erlebt, wie brüchig sein Selbstwertgefühl war. Und wie leicht es vielleicht doch sein könnte, sich endlich frei zu strampeln.
Aber ganz so leicht war es dann doch nicht.
Letztendlich hatte ich nicht die Kraft, einen offenen Schlussstrich zu ziehen. Stattdessen habe ich meine Koffer heimlich gepackt. Ich habe mich einer Frauenberatungsstelle ganz in meiner Nähe anvertraut und dort hat man mir geholfen, eine neue Bleibe zu finden. Anfangs ist mir jedes Mal der kalte Schweiß ausgebrochen, wenn ich auf der Straße einem Mann begegnet bin, der Stefan ähnlich sah. Aber am meisten hatte ich Angst, dass Stefan an meinem Arbeitsplatz auftaucht. Das hat er sich aber nicht getraut. Trotzdem habe ich meine Vorgesetzten informiert und sie gebeten, die Augen offen zu halten. Leicht ist mir das nicht gefallen, aber mithilfe der Sozialarbeiterin aus dem Frauenhaus habe ich auch diesen Schritt geschafft. Und auch eine Rechtsberatung hat man mir dort angeboten.
Was ich anderen Frauen in einer ähnlichen Situation raten würde?
Vielleicht, nicht still zu sein. Nicht verschämt zu schweigen, sondern sich jemandem anzuvertrauen und auf diese Weise aktiv Hilfe zu suchen. Sich nicht einzureden, dass etwas an einem selbst falsch ist. Für körperliche und psychische Gewalt gibt es ebenso wenig eine Rechtfertigung wie für sexuelle Übergriffe oder das Ausnutzen von wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Menschen, die Gewalt ausüben, brauchen selbst Hilfe. Aber nicht von denen, die unter ihrem Verhalten leiden. Denn die müssen erst mal selbst auf die Beine kommen.
Seit einiger Zeit bin ich in Therapie. Dort arbeite ich Dinge auf, die in meiner Kindheit und auch später passiert sind. Heute weiß ich, dass häusliche Gewalt keine Frage von Einkommen und Bildung ist. Sie kommt in allen Gesellschaftsschichten vor, egal, in welcher Altersgruppe und auch unabhängig von Rasse, Kultur und Religion. Und auch Männer können davon betroffen sein. Ich finde, das alles ist ein Grund, das Schweigen endlich zu durchbrechen.