„Hallo, Leo! Wie geht’s?“
„Hallo, Sofia! Das ist ja eine Überraschung? Was machst du denn hier?“
Ich war gerade in der Stadt unterwegs, als ich meinem ehemaligen Bürokollegen Leo zufällig über den Weg lief. Wir hatten eine Zeitlang in derselben Abteilung gearbeitet, aber dann war er in eine andere Filiale versetzt worden und unsere Wege hatten sich getrennt. Umso mehr freute ich mich, ihn plötzlich in einem Straßencafé zu treffen.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mich kurz zu dir setze?“
Leo nickte freundlich und wenig später waren wir in ein angeregtes Gespräch vertieft.
Wenn ich ehrlich war, hatte er mir immer schon gut gefallen, aber natürlich hatte ich das nie gezeigt. Ich war verheiratet und mein Mann Stefan und ich waren glücklich. Zumindest rein theoretisch. Rein praktisch war unser Liebesleben noch nie allzu berauschend gewesen, und gerade in letzter Zeit war ich zunehmend frustrierter geworden. Stefan und ich schliefen kaum noch miteinander, unser Alltag glich einer bloßen Wohngemeinschaft und auch, wenn es keinen Streit gab, dachte ich immer öfter über Trennung nach. Und obwohl ich wusste, dass ich gerade dabei war, mit dem Feuer zu spielen, begann ich an diesem Nachmittag, mit Leo zu flirten. Allerdings stieg der nicht wirklich auf meine Annäherungsversuche ein.
Natürlich wusste er auch, dass ich verheiratet war und ganz sicher wollte er einem anderen Mann nicht die Frau ausspannen. Und so verabschiedeten wir uns dann auch recht unverbindlich voneinander, allerdings nicht, ohne vorher unsere privaten Nummern auszutauschen. Schon in dem Moment war mir klar, dass ich Leo unbedingt wiedersehen wollte. Und als ich meiner Freundin Bea kurz darauf von unserer Begegnung und meinem Bauchkribbeln erzählte, wurde mir so richtig bewusst, dass sich in meiner Beziehung schleunigst etwas ändern musste.
„Ich erwarte ja nicht, dass Stefan nach sechs Jahren Ehe noch wie wild über mich herfällt, aber ein bisschen mehr Interesse könnte er schon zeigen!“
Doch anstatt mich zu trösten, goss Bea noch Öl ins Feuer.
„Also hör mal, ihr seid gerade mal Anfang Dreißig! Wenn sich da jetzt nichts tut: Besser wird`s nicht!“
„Ach, du bist gemein!“ Natürlich wollte ich Stefan auf keinen Fall bloßstellen, aber ich musste ganz einfach mit jemandem über unsere Probleme reden. Wobei, wenn ich ehrlich war, war die ganze Sache wohl eher mein Problem. Denn entweder litt Stefan nicht unter unserem frustrierenden Sexleben, oder es war ihm egal.
„Und was willst du jetzt machen?“ Fragend schaute Bea mich an.
„Keine Ahnung. Wenn ich das mal wüsste!“
„Ich werde mich von Stefan trennen!“
Als ich Bea ein paar Wochen später von meiner Entscheidung erzählte, war sie zu meiner Überraschung allerdings wenig begeistert.
„Das machst du jetzt aber nicht wegen diesem Leo, oder?“
„Und wenn doch?“ Trotzig schaute ich sie an.
„Sofia, ich bitte dich! Denk doch mal nach!“
Und dann erinnerte sie mich daran, dass ich ihr erst kürzlich erzählt hatte, dass Leo noch auf keinen meiner Flirtversuche eingestiegen war. Zwar hatten wir uns nach unserem ersten zufälligen Treffen noch ein paar Mal auf einen Kaffee verabredet, aber mehr als Wangenküsschen links und rechts hatte es nicht gegeben.
„Wenn Leo tatsächlich in dich verliebt wäre, hättest du das ganz sicher schon bemerkt!“
„Was verstehst du schon davon? Leo ist eben anders!“
„Sofia! Leo ist ein Mann wie jeder andere auch! Du setzt deine Ehe für nichts und wieder nichts auf Spiel!“
„Meine Ehe ist ohnehin schon lange keine mehr.“
„Das kann sein. Aber eines sage ich dir: Dieser Leo ist auch nicht der Richtige für dich!“
Zornig schüttelte ich den Kopf. Was wusste Bea schon? Sie kannte Leo eben nicht! Natürlich würden wir uns erst dann näherkommen, wenn ich frei wäre! Etwas anderes passte ganz einfach nicht zu Leo. Da war ich absolut sicher.
Und obwohl Bea versuchte, mir die ganze Sache auszureden, konfrontierte ich Stefan schon kurz darauf mit meinem Trennungswunsch. Entsetzt schaute er mich an.
„Aber warum denn? Ich dachte, wir lieben uns!“
„Stefan, ich bitte dich! Wir leben wie Geschwister!“ Vergeblich versuchte ich, meinen Mann davon zu überzeugen, dass unsere Ehe schon lange keine mehr war. Natürlich hatten wir uns gern und auch im Alltag waren wir ein eingespieltes Team. Aber wir waren beide noch viel zu jung, um das Leben eines alten Ehepaares zu führen! Warum konnte Stefan das denn nicht begreifen? Ich wollte leben! Ich wollte lieben! Lieben und geliebt werden!
„Aber ich liebe dich doch!“
„Ja, ich weiß! Und es tut mir leid.“ Und dann erklärte ich ihm, dass ich ausziehen würde. Erst mal in die leerstehende Wohnung einer Bekannten, alles Weitere würde sich dann schon finden. In den letzten Wochen hatte ich Zeit genug gehabt, um in Ruhe über alles nachzudenken und mein Entschluss stand mittlerweile fest. Aber natürlich fiel Stefan aus allen Wolken, als ich ihn jetzt vor vollendete Tatsachen stellte.
„Bist du sicher, Sofia?“
Während ich schon dabei war, meine wichtigsten Sachen in zwei große Koffer zu packen, versuchte er ein letztes Mal, mich umzustimmen.
„Ja, ich bin sicher. Du weißt, dass ich dich liebhabe, aber auf Dauer ist das zu wenig!“
Mit diesen Worten schnappte ich meine Koffer, stellte sie ins Treppenhaus und holte den Lift. Als ich einstieg, stand Stefan in der offenen Wohnungstüre, aber ich schaute nicht zurück. Mein Mann hatte mir nichts getan und es widerstrebte mir, ihm wehzutun. Andererseits konnte ich so einfach mehr weitermachen! Und außerdem war Stefan selbst schuld! Wie oft hatte ich ihn gebeten, gemeinsam eine Paarberatung zu besuchen! Wie konnte er glauben, dass ich auf Dauer bei ihm bleiben würde, wenn er mich behandelte, als ob ich seine Schwester oder eine bloße Mitbewohnerin wäre? Nein, ich hatte mich ganz richtig entschieden! Und wer weiß, vielleicht würden wir ja auch wieder zusammenkommen? So wirklich glaubte ich zwar nicht daran, dafür spukte Leo einfach viel zu sehr in meinem Kopf herum. Aber eine Auszeit würde uns auf jeden Fall guttun und danach konnten wir beide gemeinsam entscheiden, wie es mit unserer Ehe weitergehen würde.
„Hallo Leo, was hältst du davon, wenn du Samstagabend zu mir kommst?“
Seit meinem Auszug von Zuhause waren mittlerweile vier Wochen vergangen und obwohl ich mich liebend gern schon viel früher mit Leo verabredet hätte, musste ich mich erst mal gedulden. Leo war beruflich im Ausland gewesen, aber jetzt war er wieder da und wir würden endlich Zeit füreinander haben. Ich musste unbedingt wissen, ob er auch etwas für mich empfand! Dementsprechend aufgeregt war ich, als ich die Initiative ergriff und ihn in meine neue Bleibe einlud.
„Samstag kann ich nicht, tut mir leid.“
„Dann vielleicht Sonntag?“ So schnell würde ich nicht lockerlassen.
„Na gut, dann Sonntag. Um halb sechs?“
„Perfekt, dann bis Sonntag!“ Endlich! Erleichtert legte ich das Handy zur Seite. Leo würde mich besuchen, wir würden eine Flasche Wein miteinander trinken und uns hoffentlich endlich näherkommen! Natürlich hatte ich ihm gleich erzählt, dass ich von zu Hause ausgezogen war, aber am Telefon ließ sich so etwas nicht gut besprechen. Deshalb war es auch kein Wunder, dass Leo auf meine Mitteilung eher zurückhaltend reagiert hatte. Alles andere wäre aber ohnehin geschmacklos gewesen, Leo war ganz einfach nicht der Typ, der sich über das Scheitern einer Ehe freute.
Wenn ich ehrlich war, dachte ich kaum noch an Stefan. Natürlich tat er mir leid und mein plötzlicher Auszug hatte ihn sicher hart getroffen. Im Gegensatz zu ihm hatte ich den Schmerz über das Scheitern unserer Beziehung allerdings schon während unserer Ehe hinter mich gebracht. Wie oft hatte ich mich abends in den Schlaf geweint, wenn Stefan wieder einmal stundenlang vor dem Fernseher gehockt hatte, statt zu mir ins Bett zu kommen. Deshalb wollte ich mich jetzt auch nicht mit trüben Gedanken plagen und außerdem gab es vor Leos Besuch noch jede Menge zu tun! Ich musste zum Friseur und auch einen Termin im Kosmetikstudio hatte ich schon ausgemacht. Leo hatte etwas in mir ausgelöst, das ich schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Endlich fühlte ich mich wieder wie eine richtige Frau und aufgeregt zählte ich die Tage bis zu seinem Besuch.
„Dich hat´s ja ganz schön erwischt!“ Als es dann endlich so weit war, probierte ich ein Outfit nach dem anderen an und führte dabei lachend Selbstgespräche. Schließlich war ich am Ende so verschwitzt, dass ich ein zweites Mal duschen musste. Aber als es dann kurz nach sechs endlich an der Sprechanlage läutete, war ich bereit! Ich würde Leo ganz zwanglos empfangen, natürlich sollte er nicht mitbekommen, dass ich eine halbe Ewigkeit vor dem Spiegel gestanden hatte. Und um ihn nicht gleich beim Eingang zu überfallen, ließ ich im Vorraum erst mal die Wohnungstüre offen und machte mir in der Küche zu schaffen, während er die drei Stockwerke nach oben stieg.
„Hallo, Sofia! Entschuldige bitte, dass wir zu spät kommen!“
Erstaunt drehte ich mich um. Hatte Leo gerade „wir“ gesagt?
„Das ist Marion. Ich glaube, ich habe dir schon von ihr erzählt?“
Leo hatte eine Frau mitgebracht? Sprachlos starrte ich die beiden an. Als die Pause schließlich zu lang wurde, sprang Marion ein, um die peinliche Stille zu überbrücken.
„Schön hast du es hier! Ich habe gehört, du bist erst vor kurzem eingezogen?“
„Entschuldigt bitte, ich bin gleich wieder da!“ Wie von der Tarantel gestochen lief ich ins Bad. Wer in aller Welt war diese Frau? Leo hatte ihren Namen ganz sicher nicht erwähnt, ich war ja nicht blöd! Nie und nimmer hätte ich mich so in die ganze Sache hineingesteigert, wenn ich gewusst hätte, dass es eine Frau in seinem Leben gab! Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie ohne Vorankündigung mitzubringen? War Leo tatsächlich so unsensibel oder versuchte er, ein Zeichen zu setzen? Wollte er mir auf diese Art eine Botschaft zukommen zu lassen, die ich in meiner blinden Verliebtheit vorher ganz einfach nicht begriffen hatte?
Oder nicht hatte begreifen wollen?
Als ich vom Badezimmer zurück in den Wohnraum kam, saßen Leo und Marion am Sofa.
Beim Anblick ihrer ineinander verschränkten Hände zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Und obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich den Abend überstehen sollte, versuchte ich natürlich, mir nichts anmerken zu lassen. Allerdings sollte sich ohnehin schon bald herausstellen, dass Leo und seine neue Freundin nicht allzu lange bleiben wollten.
„Wir dachten, wir könnten noch ins Kino gehen!“ Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich bei diesem „wir“ mitgemeint war. Und so begleitete ich die beiden kurze Zeit später höflich lächelnd hinaus. Kaum hatte ich die Tür hinter ihnen geschlossen, fiel meine Fassade endgültig in sich zusammen. Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es ins Bad. Keuchend und spuckend hing ich über der Kloschüssel. Was sollte ich jetzt bloß anfangen?
Als mein Mann Stefan und ich uns wenig später trafen, um zu besprechen, wie es mit uns weiter gehen sollte, war ich immer noch wie in Trance. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich erfahren, wie sich Liebeskummer wirklich anfühlt. Natürlich hatte ich in Büchern darüber gelesen und es auch bei Freundinnen miterlebt. Aber ich hatte mir nie vorstellen können, wie weh dieser Schmerz tatsächlich tun kann. Erst, als ich all meine Hoffnungen auf Leo gesetzt und erkannt hatte, dass ich mit meinen Gefühlen völlig alleine dastand, war mir klar geworden, wie leer und elend man sich fühlen kann.
Aber vielleicht kann ich zu meiner Ehrenrettung sagen, dass ich zumindest Stefan mit meinem Kummer verschont habe! Er hatte keine Ahnung, was der wahre Grund für meinen plötzlichen Auszug war und er sollte es auch nie erfahren! Während unserer Trennung war mir endgültig klar geworden, dass meine Liebe zu ihm vorbei war. Zwar verspürte ich beim Gedanken an das Scheitern unserer Ehe einen Hauch von Wehmut, aber dieses Gefühl war in keiner Weise mit dem Schmerz zu vergleichen, den ich empfunden hatte, als ich Leo und seine neue Freundin frisch verliebt auf meinem Sofa sitzen sah. Und natürlich stellte ich mir die Frage, wie man jemanden, den man im Grunde kaum kannte, schmerzlicher vermissen konnte, als jemanden, mit dem man jahrelang verheiratet gewesen war?
„Tja, die Liebe ist manchmal ein Rätsel.“
Zum Glück verschonte meine Freundin Bea mich mit guten Ratschlägen und auch ein „Ich hab´s ja gleich gewusst“ ersparte sie mir. Das war auch gar nicht notwendig, schließlich war ich selbst meine schärfste Kritikerin. Aber je mehr Zeit verging, desto klarer wurde mir, dass Stefan und ich keine Zukunft hatten. Wenn es möglich gewesen war, dass ich mich Hals über Kopf in einen anderen Mann verliebt hatte, war unsere Ehe am Ende. Und daran konnte auch die Tatsache, dass Leo kein Interesse an einer Beziehung mit mir gehabt hatte, nichts ändern.
„Dann mach´s mal gut.“ Als Stefan und ich ein halbes Jahr später das Gerichtsgebäude verließen, in dem soeben unsere Scheidung ausgesprochen worden war, war ich erleichtert.
Natürlich hatte Stefan bis zuletzt gehofft, dass wir doch wieder zusammenkommen würden, aber als all seine Versuche vergeblich waren, war auch ihm klar geworden, dass ein Schlussstrich das Beste war. Und er sollte auch nicht der Lückenbüßer dafür sein, dass Leo kein Interesse an mir gehabt hatte. Stefan war meine Jugendliebe gewesen und er war ein guter Kerl. Ich wünschte ihm eine Frau, die besser zu ihm passte! Und für mich selbst wünschte ich mir, dass ich eines Tages doch noch jemanden finden würde, der mich ebenso lieben und begehren würde, wie ich ihn.