Der Begriff
geistige Behinderung (oder in medizinischen Kreisen auch
mentale Retardierung) bezeichnet einen andauernden Zustand deutlich unterdurchschnittlicher kognitiver Fähigkeiten eines Menschen sowie damit verbundene Einschränkungen seines affektiven Verhaltens.
Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition ist jedoch schwierig. Medizinisch orientierte Definitionen sprechen von einer
Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz. So bezeichnet auch die International Classification of Diseases (ICD-10) dieses Phänomen als
Intelligenzminderung (F70–79). Demnach lässt sich – rein auf die Intelligenz bezogen – eine geistige Behinderung quasi als Steigerung und Erweiterung der Lernbehinderung verstehen. In anderen Definitionen rückt statt der Intelligenz eher die Interaktion des betroffenen Menschen mit seiner Umwelt in den Blick.
Der alters- oder krankheitsbedingte Verlust einmal besessener Fähigkeiten (und damit auch der Intelligenz) wird als Demenz bezeichnet.
Diagnose und Differentialdiagnose
Eine Diagnose der geistigen Behinderung bezieht sich oft auf die Messung einer deutlichen Intelligenzminderung mit Hilfe standardisierter Intelligenztests. Ein Intelligenzquotient (IQ) im Bereich von 70 bis 85 ist unterdurchschnittlich; in diesem Fall spricht man von einer Lernbehinderung. Ein IQ unter 70 bedingt dann die Diagnose der geistigen Behinderung. Eine weitere Unterteilung dieses Bereiches wird von manchen Autoren als obsolet angesehen, da es keine Messverfahren gibt, die hier valide und reliable Ergebnisse mit der nötigen Trennschärfe ergeben.
Ist die Durchführung eines Intelligenztests zum Beispiel wegen einer körperlichen Behinderung oder einer Verhaltensstörung nicht möglich, werden andere Tests durchgeführt (zum Beispiel selbstständiges Essen und Trinken, Arbeitsproben, selbstständiges Ankleiden). Im Bereich der geringsten Intelligenzleistungen, die bei schweren Krankheitsbildern, Verwachsungen im Gehirn oder kriegsbedingt zerstörten Hirnteilen auftreten, wurde früher die Konditionierbarkeit auf bestimmte Reize diagnostisch verwendet. So ließen sich früher als imbezil bezeichnete Patienten mit positiven Reize oder regelmäßigen Gewohnheiten (Süßigkeiten, Essenszeiten) konditionieren, wo hingegen bei einem IQ unter 20 nur noch aversive Reize mit einer Vermeidungsreaktion verbunden werden konnten. Klinisch wurde die Diagnose vor allem im Sinn einer Grenzangabe (z. B. grenzdebil) verwendet, obgleich auch eine Skalierung mit Punktwerten vornehmbar war. Die Angaben verloren daher im unteren Bereich ihren Wert als Verteilungsfunktion und waren eine reine diagnostische Klasse.
Auch heute ist die Zuschreibung einer geistigen Behinderung anhand einer Intelligenzmessung sehr umstritten. Mittlerweile ist sie einer individuellen Einzelfallbeschreibung im Rahmen einer systemischen Analyse der Mensch-Umfeld-Verhältnisse gewichen, wobei IQ-Tests zwar regelmäßig durchgeführt, aber nicht als alleiniger Wert interpretiert werden (dürfen).
Einige Krankheits- oder Behinderungsbilder ähneln oberflächlich der geistigen Behinderung, sind jedoch im Sinne einer Differentialdiagnose von ihr zu unterscheiden. Das ist zum Beispiel der frühkindliche Autismus, die psycho-soziale Deprivation (auch
Deprivationssyndrom oder
Hospitalismus), die Demenz oder auch hirnorganische Krankheiten. Auch die so genannte
Pseudodebilität (auch:
Pseudodemenz, beim Erwachsenen
Ganser-Syndrom) ist von der geistigen Behinderung zu unterscheiden, denn hier ist die kognitive Beeinträchtigung Konversionssymptom. Die hauptsächlichen Unterscheidungen bestehen darin, dass die geistige Behinderung von Anfang an besteht, dass keine Wahnsymptome vorhanden sind und dass das Sozialverhalten nicht autistisch ist.
Symptome
Am auffälligsten sind die Lernschwierigkeiten in der Schule, die Verzögerung der kognitiv-intellektuellen Entwicklung im Kindesalter und das herabgesetzte Abstraktionsvermögen (wie Hängenbleiben am Detail oder am sinnlich Wahrgenommenen, Leichtgläubigkeit). Nicht nur die durchschnittlich maximal erreichbare Intelligenz, sondern teilweise auch das Anpassungsvermögen und die soziale und emotionale Reife sind beeinträchtigt.
Eine geistige Behinderung ist häufig mit anderen Besonderheiten verbunden (wie Autismus, Fehlbildungen des Gehirns, Lernstörungen, Beeinträchtigung der Motorik und der Sprache). Sie beeinflusst nicht die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden wie Freude, Wut oder Leid (vgl. kognitive Behinderung), jedoch zum Teil die Fähigkeit, mit diesen Gefühlen umzugehen und sie (lautsprachlich) zu kommunizieren.
Die Lebenserwartung von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist in der Regel nicht geringer als die von Menschen ohne eine geistige Behinderung. Bei einigen Syndromen gehen geistige Behinderungen jedoch mit zum Teil schwerwiegenden Beeinträchtigungen im körperlich-organischen Bereich einher, die sich teils nur im Einzelfall, teils jedoch auch generell (behinderungsspezifisch) negativ auf die Lebenserwartung auswirken.
Grade der geistigen Behinderung
Die ICD-10-Klassifikation teilt die geistige Behinderung in verschiedene Grade ein. Dies sind:
;Leichte geistige Behinderung: auch
leichte Intelligenzminderung, früher
Debilität,
ICD-10 F70Der Intelligenzquotient liegt zwischen 50 und 69. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten in der Schule und erreichen als Erwachsene ein Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren. Viele Erwachsene können arbeiten und gute soziale Beziehungen pflegen.
;Mittelgradige geistige Behinderung: auch
mittelgradige Intelligenzminderung, früher
Imbezillität,
ICD-10 F71Der Intelligenzquotient liegt zwischen 35 und 49. Dies entspricht beim Erwachsenen einem Intelligenzalter von 6 bis unter 9 Jahren. Es kommt zu deutlichen Entwicklungsverzögerungen in der Kindheit. Die meisten können aber ein gewisses Maß an Unabhängigkeit erreichen und eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und Ausbildung erwerben. Erwachsene brauchen in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung im täglichen Leben und bei der Arbeit.
;Schwere geistige Behinderung: auch
schwere Intelligenzminderung, früher
Imbezillität,
ICD-10 F72. Der Intelligenzquotient liegt zwischen 20 und 34. Dies entspricht beim Erwachsenen einem Intelligenzalter von 3 bis unter 6 Jahren. Da die Betroffenen nicht lesen und schreiben lernen und keine allgemeinbildende Schule besuchen können, besuchen sie eine Schule für praktisch Bildbare (auch
Förderschule), wo sie lebenspraktische Bildung erhalten. Andauernde Unterstützung ist nötig.
;Schwerste geistige Behinderung: auch
schwerste Intelligenzminderung, früher
Idiotie,
ICD-10 F73. Der Intelligenzquotient liegt unter 20. Dies entspricht beim Erwachsenen einem Intelligenzalter von unter 3 Jahren. Die eigene Versorgung, Kontinenz, Kommunikation und Beweglichkeit sind hochgradig beeinträchtigt.
;Dissoziierte Intelligenz:
ICD-10 F74. Es besteht eine deutliche Diskrepanz von mindestens 15 IQ-Punkten beispielsweise zwischen Sprach-IQ und Handlungs-IQ.
;Andere geistige Behinderung: auch
andere Intelligenzminderung,
ICD-10 F78. Diese Kategorie sollte nur verwendet werden, wenn die Beurteilung der Intelligenzminderung mit Hilfe der üblichen Verfahren wegen begleitender sensorischer oder körperlicher Beeinträchtigungen besonders schwierig oder unmöglich ist, wie bei Blinden, Taubstummen, schwer verhaltensgestörten oder körperlich behinderten Personen.
;Nicht näher bezeichnete geistige Behinderung: auch
nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung,
ICD-10 F 79.
Die Informationen sind nicht ausreichend, die Intelligenzminderung in eine der oben genannten Kategorien einzuordnen.
Ursachen
", ausgelöst durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft: kleine Augen, glattes Philtrum, schmale Oberlippe]]
Als Ursachen für eine geistige Behinderung gelten zum einen endogene Faktoren, die meist eine erbliche Grundlage (Erbkrankheiten) oder Chromosomen-Besonderheiten wie Down-Syndrom, Sotos-Syndrom oder Katzenschrei-Syndrom aufweisen.
Exogene Faktoren während der Schwangerschaft) sind erworbene cerebralen Schädigungen des Embryos durch
- Alkoholkonsum der Schwangeren,
- Gehirnentzündung / Hirnhautentzündung,
- Unterernährung der Schwangeren (zum Beispiel durch Hungersnot, Essstörung, rituelles Fasten (Ramadan) (diese führen zu einer früheren Geburt und geringerem Geburtsgewicht)
[Almond, Douglas & Mazumder, Bhashkar (2009): Health Capital and the Prenatal Environment: The Effect of Material Fasting During Pregnancy.]
Working Paper 14428, National Bureau of Economic Research.,
- radioaktive Bestrahlung der Schwangeren (siehe auch Strahlenkrankheit),
- Unfall,
- Sauerstoffmangel während der Geburt.
Niedrige Vitamin D-Blutwerte sind möglicherweise ungünstig für die Gehirnleistung. Darauf deuten Daten einer US-Studie mit 858 Teilnehmern über 65 Jahre hin. Bei Teilnehmern mit niedrigen Vitamin-D-25-OH Werten zu Studienbeginn (unter 25nmol/l) war nach sechs Jahren die Rate für kognitive Beeinträchtigungen um 60 Prozent höher als bei Teilnehmern mit hohen Werten (über 75nmol/l) und um 31 Prozent höher als bei ausreichenden Ausgangswerten.
1 Die häufigste genetische Ursache von geistigen Behinderungen ist das so genannte Down-Syndrom. Die häufigste nicht-genetische Ursache von geistiger Behinderung ist das fetale Alkoholsyndrom, das durch Alkoholkonsum der Schwangeren ausgelöst oder verursacht wird.
Eindeutige Ursachenzuschreibungen sind manchmal schwierig bzw. nicht möglich. In vielen Fällen sind sie - in Form einer „Schuldzuschreibung“ - auch für eine rechtzeitige Frühförderung und Förderung eher hinderlich oder kontraproduktiv.
Genetik
Die häufigste genetische Ursache von verminderter Intelligenz ist das Down-Syndrom mit einer durchschnittlichen Häufigkeit (Prävalenz) von etwa 1:500. Auch andere Chromosomenaberrationen können die neuronale Entwicklung beeinträchtigen. Im Gegensatz zu Erbkrankheiten sind Chromosomenaberrationen erst kurz vorher in einer Eizelle der Mutter entstanden. Erbkrankheiten im engeren Sinn sind seltene bis sehr seltene Mutationen, die meist bereits über mehrere Generationen übertragen wurden.
Im folgenden eine Liste der Erbkrankheiten, die zu neuronalen Entwicklungsstörungen mit verminderter Intelligenz beim Neugeborenen führen können.
Name | Erbgang | Häufigkeit | ICD-10 | OrphaNet | Betroffene Gene/Proteine |